Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bezweifelt, dass die geplanten Infektionsschutzgesetz-Änderungen zu Ausgangsbeschränkungen verfassungskonform sind. Unter anderem fehle es an notwendigen Ausnahmen für Geimpfte.
Die von der Bundesregierung geplante einheitliche Notbremse im Kampf gegen die rapide steigenden Corona-Infektionszahlen stößt bei immer mehr Jurist:innen auf Bedenken. Jetzt äußerte auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages verfassungsrechtliche Zweifel an den Maßnahmen. Die Parlamentsjurist:innen halten für „zweifelhaft, ob die geplante nächtlichen Ausgangsbeschränkungen einer abschließenden verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten.“ Dass zehn „eingriffsintensive Maßnahmen“ von einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern abhingen, werfe gewichtige Fragen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit auf, heißt es in dem Gutachten.
Zur Eindämmung des Coronavirus soll künftig bundesweit eine automatische Notbremse ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gelten. Die bundesweit einheitlichen Schutzvorkehrungen werden in einem neuen Paragrafen 28b des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) konkret aufgeführt, darunter Kontaktbeschränkungen sowie Auflagen für Freizeiteinrichtungen, Geschäfte, Kultur, Sport oder Gaststätten. Die Bundesregierung wird mit dem Gesetz außerdem dazu ermächtigt, bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 durch Rechtsverordnungen Gebote und Verbote zu erlassen. Solche Rechtsverordnungen bedürfen der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.
Vorgesehen ist darunter auch eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 Uhr und 5 Uhr. Letztere sei „kritisch zu bewerten“, lautet nun die Warnung der Bundestagsjurist:innen. Zweifel bestehen für sie vor allem an der Angemessenheit der Maßnahme. Sie kritisieren, dass die Ausgangsbeschränkungen bereits bei einem Inzidenzwert von 100 greifen sollen. „DIESER SCHWELLENWERT DÜRFTE ZU NIEDRIG SEIN“, heißt es in dem Gutachten.
Weiter kritisieren der Wissenschaftliche Dienst, dass im sog. Vierten Bevölkerungsschutzgesetz JEGLICHE „NOTWENDIGE AUSNAHMEN“ FÜR GEIMPFTE FEHLTEN. Diese müssten ergänzt werden, lautet die Empfehlung. Schließlich seien Verfassungsrechtler ganz überwiegend der Auffassung, dass Grundrechtseingriffe für Geimpfte grundsätzlich nicht mehr zu rechtfertigen sind.
Unterdessen stießen bei der ersten Lesung des Gesetzes am Freitag (16.04.2021) im Bundestag die Pläne der Bundesreguierung auf heftige Gegenwehr. Redner:innen von FDP, Linken und AfD warfen der Regierung in einer von Zwischenrufen und harten Vorwürfen geprägten Debatte vor, den Bürgern unzumutbare und nicht zu rechtfertigende Auflagen zumuten zu wollen. FDP-Partei- und Fraktionschef Christian Lindner drohte der Bundesregierung sogar mit Verfassungsbeschwerden gegen die geplante Bundes-Notbremse: […] „In der Abwägung mit der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte seien pauschale Ausgangssperren im Ergebnis jedenfalls nicht angemessen und daher verfassungswidrig“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte indes in der Debatte die Pläne. „Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem Ort zum anderen – im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs – zu reduzieren. Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen – wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?“, so Merkel…